
Künstlerische Zugangsweisen in der Bildungsdokumentation

Es kostet sicherlich experimentelle Überwindung, neue Wege einzuschlagen, die jenseits von Tabellen, Entwicklungsbögen und Standards durch „von Herzen getragene Authentizität“ gekennzeichnet sind. Auch ist es immer wieder eine große Herausforderung, ausreichend Zeit im Gruppenalltag zu finden, um die aufwändigen Beobachtungen durchzuführen bzw. sie auszuwerten. Institutionelle Enge, Zeit- und Personalmangel erschweren nicht selten das Vorhaben, sich an die Bildungsdokumentation heranzusetzen und einfach zu starten. Tabellen ausfüllend ist oft kaum noch Platz für selbstständige Gedanken, für eigene Gefühle dem Kind gegenüber, für persönliche Intuition und freie Assoziation.
Kleine Gedichte und Geschichten schreiben
Ist es nicht wichtig, dass Begeisterung in mir entsteht, wenn ich mich mit Kindern auseinandersetze, zugleich Staunen, Frage und Faszination?
Mein Bedürfnis nach mehr Kohärenz und auch Integrität in der Dokumentationsarbeit rückte im Laufe meiner Berufsjahre mehr und mehr in den Vordergrund. Ich gestand mir zu, dass sich nicht nur allein die Potenzialität des Kindes, sondern sich auch meine eigene Potenzialität entfalten möchte. So begann ich, mich eigeninitiativ als „Autorin und Künstlerin“ im persönlichen Schaffensprozess kennenzulernen: entwickelte Fotoausstellungen, schrieb kleine Gedichte oder auch Geschichten. Diese mussten nicht „gut“ und „schön“ sein, sondern viel wichtiger war ihre Authentizität in anerkennender Resonanz zum Kind. Werte wie Präsenz, Herzensweite, Verbundenheit, Toleranz und Großzügigkeit schenkten den Annäherungsprozessen eine „hinfühlende Atmosphäre“.
Im peripheren Schauen am Kind vorbei
Das Bedingungs- und Umgebungsfeld des Kindes wurde in meinen behutsamen Angängen in den Vordergrund gerückt, die übliche kindzentrierte Entwicklungs-Perspektive wurde hingegen durch ungewohnte De-Zentrierung und ein „peripheres Schauen am Kind vorbei“ ergänzt. Mein Blick richtete sich weniger auf die Kompetenzfelder des Kindes, seine Entwicklungsschritte, seine Produkte oder Fertigkeiten, sondern auf Übergangsphänomene, Zwischenräume, Atmosphären, Dingwelten und auch auf Belangloses. Wie verhält sich eine Kastanie, was passiert zwischen dem Reinkommen und dem Hausschuhe Anziehen, welche Eigenschaften hat der Stock, mit dem das Kind eben noch gespielt hat? Auf diesen „intermediären“ Ausflügen Richtung Dingwelt des Kindes und seinen zeitlich-räumlichen Umgebungsfaktoren hieß ich das Befremdende, Überraschende und das Nicht-Gewusste willkommen. Der Forschergeist durfte in mir erwachen.
Mit seinen Rätseln steht das Kind vor uns
Die „Poetische Miniatur“, die Henning Köhler (Fachautor und Heilpädagoge) in seinen Seminaren als erweitertes Instrumentarium für eine wertschätzende Pädagogik an die Fachkräfte weiterreicht, beschreibt einen künstlerischen Weg. Dieser ermöglicht uns im Ringen um das Kind – das in seiner ganzen Komplexität und mit seinen zahlreichen Rätseln vor uns steht – neue Zugangsweisen. Uns allen ist bewusst, dass Worte, Tabellen, Kreuze und Standards oftmals allein nicht ausreichen, um sich der ganzen Größe des Kindes sinnvoll und sinnerfüllt annähern zu können.
Künstlerische Ausdrucksweisen stehen für einzigartige Momente des Erfassens
Ein künstlerischer Weg kann auf atmosphärischer und auch auf der Empfindungs-Ebene einen ergänzenden und auch erweiternden Erkenntnisprozess ermöglichen. Die pädagogische Fachkraft spürt nach, nähert sich, fühlt hin, assoziiert, kreiert … auf Basis unterschiedlichster Wahrnehmungs- und Beobachtungskanäle – möglichst wertfrei und respektvoll. Sie verbindet sich im eigenen Erleben mit dem Kind in authentischer Weise. Ihr ganz persönlich kreativer Ausdruck in der Dokumentation kennt zunächst einmal keine Grenzen. Er könnte sich in einem Gedicht, in einer Skulptur, in einem kleinen Film, in einem Theaterstück, in einer Geschichte oder in einer Geste widerspiegeln. Künstlerische Ausdrucksweisen stehen für einzigartige Moment des „Erfassens“ und berühren Eltern, das Kollegium und nicht zuletzt auch das Kind auf ganz besondere Art und Weise. Das Kind geht in Resonanz und erfährt intuitiv, dass sich seine Mitwelt von institutionalisierter Enge befreit und gelöst in seinen sensiblen Beziehungsraum eingefunden hat. Es fühlt sich anders und ergänzend verstanden – umfangen von Offenheit, Kreativität, Herzensgüte und Integrität.
Die poetische Miniatur in wertschätzender Erinnerung
Nachfolgend möchte ich zwei Beispiele einer „Poetischen Miniatur“ an Sie weiterreichen, verfasst durch meine geschätzte ehemalige Kollegin im Waldkindergarten Lisa Schnasse. Einleitend finden Sie ein Elternzitat, das im Zuge des Verfassens dieses Blog-Beitrags nach einigen Jahren seine wertschätzende Erinnerung formuliert:
Ich selbst lese [die poetische Miniatur] gerne immer mal wieder und kann mich direkt mit [meiner Tochter] darin verbinden. Eine wundervolle Form über einen anderen Menschen zu dichten. Es hat etwas ganz besonderes Tragendes darin für mich … Erst heute habe ich entdeckt, dass ich das Gedicht […] sogar in unserem Familienbuch verewigt habe. [Lena] hat es selber auch gelesen und fand es toll! Stärke und Stolz lagen am Ende in ihrem Blick!
Lena
Wie ein im Nest sitzender Zaunkönig
er schaut sich um, reckt sich, pickt ein wenig
fliegt leicht verschlafen als Symbol der Stille
überrascht die Welt mit starker Stimme
Gegenwind ist so gemein
So geht das nicht, nein, nein, nein
aufgeregt aufgescheucht
Anstrengungen angehäuft
verzweifelt nach helfenden Händen fragen,
um die Last des Lebens nicht alleine zu tragen
Wie eine Katze am Ofen
in ihrem Blick wohnt Weisheit
ihre empfindsamen Pfoten
kennen keine Uhrzeit
einen Stein, einen Halm, einen Stock, ein Blatt
Kunst, die sie in ihr Körbchen gesammelt hat
ein sanftes Lächeln, leises Lachen
vogelflink und katzengelassen
Till
Zerzauste Haare
rote Wangen
greifende Arme
Feuer fangen
rastloser Stürmer
das Tor im Visier
er jagt den Ball
Ist er Tuch oder Stier?
Blicke, die blitzen
vor Freude und Kraft
Sprüche die sitzen
wie Zweige am Ast
Ein Abenteurer
auf hoher See
voll Ungeheuer
plötzlich Heimweh
nach seinem Heimathafen
dort sonnt er sich
dort stärkt er sich
dort kann sein Eifer schlafen
Literatur
Esther Schüllenbach-Bülow, Claus Stieve (Hrsg.)
Raum anders erleben, 2016
Henning Köhler
War Michel aus Lönneberga aufmerksamkeitsgestört?, 2013
E. Gerd Schäfer
Wahrnehmende Beobachtung, 2012
Martina Schaab
Freispiel in Freiluft und Freilicht, 2010
in Natur und Umwelt, Hrsg. Gerd E. Schäfer, S. 40-57
Beitragsfoto: Hand mit Spieleimer S. 57
Claus Stieve
Von den Dingen lernen, 2008