Bildungsdokumentation in Kitas, Schaab Köln/Bonn
 

Im Kleid kindlicher Berührung

30. August 2016

Die Dinge auf der Erde sind gehemmt und müssen einen Anstoß erfahren …

(Paul Klee) 

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Wie oft schon durfte ich erleben, dass Kinder bereits im frühsten Alter scharfsinnig, eigenaktiv und selbstwirksam Dinge „ins Rollen bringen“ oder diese manchmal auch „ver-un-ordnen“, von denen ich jedoch noch nicht einmal erahnte, dass sie existieren oder ich ihnen irgendeine Bedeutung hätte zusprechen können.

Die Kunst des Erblickens

Hören wir Paul Klees Ausführungen zu „Punkt und Linie“ (vgl. Zitat im Titel), so wissen wir, dass es auch im übertragenen Sinne genug Dingzusammenhänge in unserer Welt gibt, die uns oftmals verborgen bleiben, da sie „keinen Anstoß“ erfahren haben – also demnach nicht in Bewegung gebracht worden sind. Dafür bedarf es im allerersten Schritt zunächst der Kunst des „Erblickens“, eine aufweckende Kunst, die meines Erachtens insbesondere in der frühen Kindheit par exellence ihren Höhepunkt findet!

Über 12 Jahre lang begleitete ich Kinder im Alter von 2 bis 6 Jahren im Waldkindergarten Waldzwerge e.V., wo ich diese einzigartigen Momente des „Erblickens“  als Zeugnisse ästhetischer Prozesse habe fotografisch festhalten dürfen. Sie bezeugen den kraftvollen Dialog zwischen Kind und Natur in gegenseitiger Inspiration und waren mir Anlass für viele Fotoausstellungen auf Kongressen oder Fachtagungen, und ich erkannte in ihnen eine Art „Co-Potenzialität“. Download Ausstellungsfotos

Im Kleid kindlicher Berührung

Ein unter tausenden von anderen Blättern im Wald unscheinbar versteckt gebliebenes Ahornblatt wird von einem Kind an einem Herbstmorgen entdeckt: Durch sein Bedeutung stiftendes Handeln befreit das Kind das gelbe Herbstblatt aus seiner bis dahin unsichtbar gebliebenen Sphäre in eine sichtbare Existenz, lädt sie mit seiner Fantasie auf und beseelt sie gleichermaßen in seinem Handeln, Fühlen und Denken – oftmals eingebettet in komplexen sozialen Zusammenhängen unterschiedlicher Kinderstimmen, Diskussionen und Erzählungen. Als Beobachterin darf auch ich während solcher  Momente mitentdecken, mitlauschen, mitfühlen und mich mitbegeistern. Die zuvor noch „belanglose, unentdeckte, leblose Materie“ erhält wundersamerweise im Kleid kindlicher Berührung „Geisteserfülltheit“.

Wussten Sie schon, dass „Geisteserfülltheit“ wortwörtlich mit „mindfullness“ ins Englische übersetzt werden könnte, diese Begrifflichkeit jedoch „zurück-übersetzt“ ins Deutsche für gewöhnlich „Achtsamkeit“ heißt? So mag es an dieser Stelle einen Zusammenhang zwischen Achtsamkeit, „Geist und Materie“, Co-Potenzialität und ästhetischer Bildung geben.

Ganz still gibt es nicht, oder?

Ich erlebe die Co-Potenzialität zwischen Natur und Kind als „Dream-Team“, das uns Erwachsenen in aller Konsequenz als Vorbild dienen kann. Die beiden eigenwilligen und eigentätigen Geschöpfe ergänzen sich so wunderbar in ihren Möglichkeiten und Schönheiten. Bitte verstehen Sie mich nicht falsch, ich meine hier nicht das üblich „Schön-Harmonische, dem Auge Schmeichelnde“, sondern das „Ästhetische“ im ursprünglichen Sinne. Schauen wir auf seinen griechischen Wortstamm zurück „aísthesis“, so heißt „ästhetisch“ übersetzt „wahrnehmend erkennen“.

Die Natur ermöglicht – nicht nur allein dem Kind – sondern uns allen wahrnehmend einzutauchen, zu spüren, zu riechen, zu schauen, zu hören, auszubalancieren jeweils gekoppelt an Empfindungen, Gedanken oder auch Eigenbewegungen. Alle Eindrücke spielen zusammen ein großes Konzert – und in einem solch‘ komplexen Gefüge erkennt das Kind immer mehr Welt und sich selbst in seinen Gesetzen, Grenzen und Möglichkeiten.

Im Erkenntnis- bzw. Bildungsprozess verhalten sich Kind und Materie selten still (falls das überhaupt möglich ist – ganz still gibt es nicht, oder?). Beide schwingen unaufhörlich miteinander, bedingen und bewegen einander, und so entstehen Veränderungen, augenscheinlich sichtbar machend und sichtbar werdend (vgl. Martina Schaab: „Freispiel in Freiluft und Freilicht“, 2010).

Schritt für Schritt das soziale Miteinander verstehen lernen

Doch gestalten sich unsere Zugangsweisen als in Konventionen und Routinen gehaltene, erwachsene Menschen oftmals ignorierend, da wir unseren Blick für die Ästhetik des kindlichen Tuns und Seins verloren haben, oder wir fühlen uns gestört, sobald die „Ding-Kind-Bewegungen“ zu ausladend werden. Als Beispiel wäre das nach Hause Bringen eines frischen, feuchten Lehmklumpens zu nennen oder das Ver-Räumen von Mobiliar oder Alltagsgegenständen in der Wohnung. Wer kennt nicht die Situation, wenn Blumenerde krümelig flächendeckend verteilt den Wohnzimmerboden schmückt. Verständlicherweise sind in diesen Augenblicken Grenzziehungen vonseiten der Erwachsenen dem Kind gegenüber notwendig, was dem ausprobierenden Kind ermöglicht, Schritt für Schritt das soziale Miteinander und seine Ansprüche verstehen zu lernen. Doch macht es einen Unterschied, wenn diese Maßnahmen mit einem wertschätzenden Blick auf die Co-Potenzialität zwischen Kind und Ding bzw. Natur begleitet oder sie hingegen mit einer defizitären Perspektive entwertet werden. Es gilt demnach, auch extreme Grenzüberschreitungen des Kindes mit der Brille des Verstehens zu bestaunen, ohne die notwendige Grenzziehung außer Acht lassen zu müssen und gleichzeitig auch auf das Belanglose – beispielsweise dem kleinen kreierten Asthäufchen beim Spaziergang – zu schauen und seine Relevanz und Neuformulierung zu ermessen.

Unglaublich wunderschön

Leise für mich gebe ich dann doch immer wieder zu, dass der Dialog zwischen Kind und  dinglicher (natürlicher) Umwelt – hier mag ich widersprüchlich klingen – „wunderschöne“ Produkte erzeugt, die jenseits „ästhetischer Bildungsansprüche“ dem Auge im höchsten Maße schmeicheln und damit aller Landart-Schöpfungen höchste Konkurrenz bieten! Mir bleibt also nichts anderes übrig, als auszurufen: „Das sieht ja toll aus!“, … folgen Sie hierfür bitte, falls Sie dies nicht schon weiter oben getan haben, dem Link: Download Ausstellungsfotos

Literaturhinweis

Esther Schüllenbach-Bülow, Claus Stieve (Hrsg.)
Raum anders erleben, 2016
Claus Stieve
Von den Dingen lernen, 2010