Philosophieren mit Kindern, Martina Schaab, Köln/Bonn
 

… weißt Du, ich kenn‘ das Leben

2. September 2016

Weißt du, ich kenn‘ das Leben.
– Und, wie ist das? –
Das ist schön.

(Anna, 4 Jahre)

Gern lassen wir uns bezaubern von der Weisheit und Unbefangenheit kindlicher Zugangsweisen zur Welt. Sie kommen oftmals unerwartet aus ihnen herausgesprudelt – ganz nebenbei, als seien ihre Statements ohne Belang. Doch passt ihre Beiläufigkeit zumeist nichtzur Gewichtigkeit ihres Inhalts. Dieser greift überraschend tief in die philosophischen und spirituellen Fragestellungen unseres Daseins, berührt Existenz, Leben und Tod.

 

Levin (L), 4 Jahre,
im Gespräch mit einem Erzieher (E):

(L) Weißt du, dass die Menschen unendlich sind?

(E) Wieso?

(L) Ja – erst werden die Babies geboren, dann sterben die Großen, und die Babies kriegen Kinder.

 

Hans, 5 Jahre,
im Gespräch mit einem Erzieher:  

Wenn man immer trinkt, kann man ganz lang leben, aber irgendwann stirbt jeder Mensch.

 

Das sind für die Ameisen Riesenbäume

Insbesondere Kinder im Vorschulalter scheinen noch eine direkte Verbindung zu unseren Daseinsformen zu verkörpern, für uns sichtbar werdend im Spiegel ihrer Ausdrucksweisen, wie die Kinderzeichnung, die verbale Aussage oder der Traum,  jeweils kaum überlagert von Theorien, Konventionen oder Werturteilen.    

 

Nora, 5 Jahre,
im Gespräch mit einer Erzieherin:

Die Gräser sehen so schön aus. Die Gräser sehen aus wie Bäume. Aber wie Bäume ohne Blätter. Nein, kleine Knospen. Das sind für die Ameisen Riesenbäume. Und das Gras ist für sie wie in einem Blumenstrauß eingepflanzt.

 

Verhaftet im logischen Denken

Ihr alt-kluges Wissen findet seine Wurzeln  jenseits unseres erwachsenen Vorstellungsvermögens, was oft verursacht, dass wir Kinder in ihren Aussagen nicht verstehen. Auch der Perspektivwechsel, der Nora in ihrem Zitat wundervoll gelingt, indem sie sich in die Welt der Ameisen hineinversetzt, hilft uns nicht immer weiter. Wir verbleiben stattdessen in unserem logischen Denken verhaftet.

 

Tochter (T) , 5 Jahre,
im Gespräch mit ihrer Mutter (M):


(T) Alle sterben.

(M) Ja. Jede Blume, jedes Tier, jeder Baum, jeder Mensch stirbt einmal. Ja, alle sterben.

(T) Wer stirbt als letztes?

(M) Niemand stirbt als letztes, weil immer wieder neu geboren wird.

(T) Oh ja (lacht). Du stirbst als erste, dann ich. Ach nein, der Papa stirbt als erstes.

(M) Manchmal sterben auch junge Menschen früher, vielleicht durch einen Unfall.

(T) Kinder können Krebs bekommen. Aber sie werden wieder gesund, weil sie Medizin bekommen. (Pause) Wann stirbt das Haus?

 

Die logische Antwort auf diese Frage wäre, –  nein, das Haus kann nicht sterben, es lebt ja nicht. Doch steckt hinter dieser Frage nicht ein tiefes philosophisches Wissen des Kindes? Schauen wir tiefer in die Zusammenhänge und Bedingungsgefüge eines Hauses, so erkennen wir viele „Nicht-Haus-Elemente“, um im Wortlaut des Friedensstifters und Zen-Meisters Thich Nhat Hanh zu sprechen: Architekten, Tischler, Glaser, Installateure, Dachdecker, Lastwagen und ihre Fahrer, Wasser, das den Beton hat geschmeidig werden lassen, Holz für den Dachstuhl, … ja sogar die Sonne, die den Baum hat wachsen lassen, der wiederum das Holz für den Dachstuhl ermöglichte, …, also ein riesiges komplexes Gesamtwerk von Stoffen, Menschen, Elementen, Materialien, Raum und Zeit, die ineinander wirken und sich wechselseitig bedingen.

All‘ diese unterschiedlichen Zutaten  – die „Nicht-Haus-Elemente“ – kommen irgendwoher, gehen wieder irgendwohin, irgendwann einmal …  und so „sterben“ sicherlich immer wieder viele kleine Anteile des Hauses, schauen wir genau auf seine verborgenen Zusammenhänge im Sinne von „Verwandlung als eine Art Fortführung“. 

Sich für die philosophischen Fragen des Kindes öffnen

Nicht dass Sie mich missverstehen – ein vierjähriges Mädchen stellt sich all‘ diese Fragen natürlich nicht, wenn es über den Tod des Hauses philosophiert, wie oben bereits erwähnt, ist sein Zugang naiv und unmittelbar. Doch ich als Erwachsene fühle mich durch die Aussage des Kindes inspiriert, genauer hinzuschauen und die Frage „Wann stirbt das Haus?“ nicht einfach mit einer einschränkenden Bemerkung, wie zum Beispiel „Ein Haus kann nicht sterben, weil es nicht lebt.“ abzutun.

 

Tochter (T), 5 Jahre,
im Gespräch mit ihrer Mutter (M):

(T) Mama, warum kann die Gardine nicht sprechen? 

(M) Die Gardine ist vom Wind abhängig, um sich zu bewegen.

Möchten wir den Raum für die philosophischen Fragen des Kindes öffnen, so ist es wichtig, den Perspektivwechsel zum Kind zu üben (auch wenn uns dieser nie ganz gelingen wird) und mit „einzusteigen“ in den Anfängergeist aller Fragen. Dafür lege ich spontan meine gewohnten Denkmuster, die durch ihre Ratio und Analysefertigkeit gebunden an Konventionen gekennzeichnet sind, einfach zur Seite.

Ähnlich eines rätselhaften Kōans

Ich gehe in Resonanz mit dem Kind und seinen Fragen bzw. Aussagen – mitschwingend und fließend, spielerisch und frei assoziierend. So könnte eine Antwort entstehen, wie sie oben die Mutter – ähnlich eines  rätselhaften Kōans  (philosophische, buddhistische „Anekdote“, die zumeist durch ihre scheinbar unlösbare Paradoxie gekennzeichnet ist) formulierte. Mit einer solchen Antwort entstehen eher weitere Fragen – doch sind diese nicht spannend und auch anregend?

Fragen mit Fragen begegnen

Die Kunst des Philosophierens lebt von der Offenheit dem Faktischen gegenüber, unserem Perspektivwechsel in die kindliche Welt, und dem Liebhaben der „Nicht-Antwort“. Wir müssen nicht immer alles erklären, logisch nachvollziehen und einordnen können. Es ist wichtig, auch Fragen stehen zu lassen, keine Antworten parat zu haben oder auch Fragen mit weiteren Fragen zu begegnen – stets in Wertschätzung dem Kind und seiner intuitiven Weltaneignung gegenüber.

 

Tochter (T), 5 Jahre,
im Gespräch mit ihrer Mutter (M):

(T) Wenn man eine dicke Beule hat, muss man dann zum Krankenhaus?

(M) Ja, wenn sie ganz dick ist.

(T) Warum?

(M) Weil vielleicht etwas gebrochen ist.

(T) Und wenn die Beule so groß ist wie die Welt?

(M) So groß gibt es keine Beule.

(T) Wann fängt die Welt auf?

(M) Wo fängt sie an, wo hört sie auf, meinst du?

(Schweigen) 

 

Wann schläft der Himmel

Ja, das Leben zeigt sich uns tagtäglich in all‘ seiner Größe, in seinen Wundern, Potenzialen und ästhetischen Faszinationen und auch Rätseln. Seine Einbettung in ein nicht rational vorstellbares, komplexes Ganzes, das Thich Nhat Hanh (siehe oben) als „Inter-Sein“ im Sinne von „Seinsverbundenheit“ oder „sich wechelseitig Bedingendes“ bezeichnet, löst in mir große Ehrfurcht aus.

Ich freue mich über jeden Moment, in dem es mir gelingt, in Berührung mit dem „Leben in seiner ganzen Schönheit“ (vgl. erstes Zitat: „Das Leben ist schön“) und damit in seiner ganzen unvorstellbaren Größe zu kommen. Kinder leiten mir mit ihren überraschenden, intuitiven Fragen und Antworten hierbei in „ästhetisch-philosophischer Weise“ den Weg.

 

Tochter (T), 5 Jahre,
im Gespräch mit ihrer Mutter (M):

(T) Wann schläft die Sonne?

(M) Wenn die Sterne funkeln.

(T) Wann schlafen die Sterne?

(M) Wenn die Sonne uns hell bescheint.

(T) Und wann schläft der Himmel?

(Keine Antwort)

 

Quelle Zitate
Hans-Georg Renner
Waldkindergarten Waldzwerge e.V.

Martina Schaab
supervision-achtsamkeit-koeln.de

Literatur                       
Martina Schaab
Geschichten der Vergänglichkeit im Waldkindergarten, 2012, S. 107-138, Hrsg. Nils Altner in Achtsamkeit im Kindergarten